Im Anschluss daran sind weitere Kulturartikel zu lesen, an anderer Stelle veröffentlicht.
Kunst kommt nicht von Konsens
Das WTT schreibt selbst und macht Ernst – aber sehr spaßig
Spiel sagt mehr als tausend Worte – und manchmal tut es das undiplomatischer: „Kunst kommt von Kürzen!“, behauptet ironisch der aktuelle Volltreffer am Westdeutschen Tourneetheater in Remscheid; und auch sonst führt das selbst geschriebene Stück gern in die Irre. Zusammen mit Intendantin Claudia Sowa und Bea Lange, sonst zuständig für die WTT-Verwaltung, hat Ensemblemitglied Thomas Ritzinger die Geschichte eines Provinztheaters geschrieben, das es aus Angst um Fördergelder allen Zuschauern recht machen will. Und sich ebendadurch ad absurdum führt.
So löblich auch Eigeninitiative ist: Solche Versuche drohen schnell auf zusammengeschusterte Thesen-Paraden hinauszulaufen oder sich in allzu billigem Politiker-Bashing zu ergehen. Nichts davon im WTT: Mit „Kunst kommt von Kürzen“ ist ein Theaterstück ganz in klassischem Sinne gelungen. Handlung und klare Struktur – kluge Gedanken, bühnengerecht pointiert – mit Schauspielern, die jeweils ihre Figur bei aller Typisierung vorbehaltlos lebendig machen.
Für die Zuschauer heißt das bis zur Pause: Viel Vergnügen über fünf Theaterleute, die sich angesichts leerer Sitzreihen einem „innovativen Finanz-Management“ verschreiben und dessen inhaltlich wie sprachlich monströsen Maximen: „Profitabilität! Massenkompatibilität! Multiflexibilitätsdisponibilität!“ Witzig zugespitzt die fünf Typen, aber wohl gar nicht allzu unrealistisch: Björn Lenz gibt das Theatersensibelchen mit Hang zum Beschwichtigen wie zum Esoterischen, der das Publikum partout mit „positiven Energien“ erleuchten will. Verena Sander ist als Diva ebenso selbst- wie effektverliebt und setzt für die Kundenakquise auf Plüsch und Purpurtracht. Claudia Sowa spielt die Theaterchefin im Stück als eine Art strenge Patentante (und damit: nicht etwa sich selbst), die mühsam beherrscht die Eingebungen ihrer Truppe kassentauglich zu ordnen versucht. Thomas Ritzinger übernimmt die Rolle des intellektuellen Rollkragenträgers mit dickleibigem „Klassiker“ unterm Arm, nebst depressiver Anwandlungen. Und Kristina Otten hat ausweislich ihrer knappen Bekleidung und des großzügigen Umgangs mit ihrer Handynummer für männliche Verehrer offenbar irgendetwas falsch verstanden mit der Forderung, daß „Kunst sich verkaufen muß“. Oder – – gerade „richtig“?
Das ist alles gewinnend gespielt und mit schönen Bühnenideen angereichert. Nach der Pause dann: der Schnitt – allerdings einer, der erst am Schluß schmerzt. Zu sehen und zu hören ist jetzt die kunst-gekürzte Version von „Romeo und Julia“, das nun qua Shakespeare-Prestige die Zuschauer locken soll. Zu hören vor allem; denn das Provinztheater sucht sein Heil jetzt in der Trivial-Oper unserer Zeit, dem Musical – so daß Julia klangvoll klagend „Memory“ aus Webbers „Cats“ anstimmt, während im Hintergrund freundliche Sponsorenhinweise des örtlichen Bestatters über die Bühne tänzeln. „Satire kann so schön sein“, möchte man seufzen. Doch dann: Als man nach den Standing ovations schon kurz davor ist, den Premierensaal frohgemut zu verlassen, muß die Theaterchefin zum Staunen aller das Votum der Politik verkünden: Da man nun schließlich komplett zum Dienstleister geworden sei, erübrige sich ja die Förderung. Alles aus.
Wenn Theater spielt, und zwar undiplomatisch mit Publikumserwartungen, dann darf das Publikum fragen: Warum? Hier gibt es darauf eine klare Antwort: Die Schlußpointe von „Kunst kommt von Kürzen“ dient einer ganz und gar notwendigen Klärung. Satire gegen Kultureinsparungen, aufgeführt vor Theaterzuschauern, die ja logischerweise ohnehin gegen Kultureinsparungen sind, kann viel Spaß machen, aber kaum Sinn. Ja, das WTT-Stück handelt sehr unterhaltsam von marktgängiger Kultur; aber am Ende mutet es uns außerdem die Frage zu, ob wir – und wir sind Teil des Markts – marktgängige Kultur wirklich nicht wollen. Auch der Rezensent zögert und hat übrigens seit Tagen „Memory“ als Ohrwurm. Aber es stimmt wohl: Eine Kultur, die sich ganz einig ist mit ihrem Publikum – sei es inhaltlich oder künstlerisch –, braucht Förderung am wenigsten. Und wird sie nicht immer bekommen.
Auf diese Botschaft seines Eigenwerks sollte das WTT in der Tat stolz sein. Mag Kunst nun von Können kommen oder von Kürzen: Von Konsens kommt sie jedenfalls nicht.
(20.6.2012)
Herzensadel? Fehlanzeige!
Beim Theater Oberhausen emanzipiert sich Ibsens „Nora“
auch von Literaturklischees
Henrik Ibsen: Nora oder Ein Puppenhaus.
Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel.
Regie und Bühne: Herbert Fritsch – Kostüme: Victoria Behr – Musik: Otto Beatus – Dramaturgie: Tilman Raabke – Regieassistenz: Christian Quitschke.
Besetzung: Nora: Manja Kuhl – Frau Linde: Nora Buzalka – Helmer: Torsten Bauer – Doktor Krank: Henry Meyer – Rechtsanwalt Krogstad: Jürgen Sarkiss.
Die Literaturgeschichte kennt so einige Frauengestalten, die ein sittlich anstößiges Leben führen, diese Schande jedoch selbstlos durch Herzensgüte wieder wettmachen. Wie verhält es sich da aber mit Henrik Ibsens „Nora“, die Herbert Fritsch am Theater Oberhausen inszeniert und zum NRW-Theatertreffen nach Wuppertal gebracht hat? In einer Interpretation wie diesem geilen Horror-Antimärchen ist von der herzigen Kompensationsleistung nichts übrig. Aber vielleicht ist das ganz gut so.
„Nora“, nach dem norwegischen Originaltitel auch „Ein Puppenhaus“ genannt, war eine bei ihrem Erscheinen 1879 unerhörte Emanzipationsgeschichte. Die junge Titelfigur hat sich in ihrer Naivität prostituiert und außerdem einen Betrug begangen, um ihrem Mann ohne dessen Wissen eine lebensrettende Kur finanzieren zu können. Als Jahre später ein Mitwisser droht, das bekannt zu machen, sorgt der bigotte Ehemann sich nur um seine Ehre und bedenkt Nora mit offener Verachtung. Statt ihren Selbstmordplan auszuführen, unternimmt sie daraufhin einen revolutionären Schritt und verläßt Mann und Kinder.
Statt Ibsens überdeutliche Figurenzeichnung mit weicheren Strichen zu gestalten, tut nun Regisseur Fritsch genau das Gegenteil und spitzt weiter zu: Nora, die „Puppe“, wird bei Manja Kuhl mit Rotschopf und immer luftigem Reifrock (zunächst) vollends zum Spielzeug: knallig, lockend, leicht zu handhaben. Paradoxerweise macht das Überreizen ihre bei Ibsen enervierende Unbedarftheit erträglicher.
Bei allen anderen Figuren ist es das Böse, das maßlose Formen annimmt: Ob man sich bei Torsten Bauer, als Ehemann Torvald Helmer unbewegt im maskenhaften Gesicht, an konkrete Spukgestalten erinnert fühlt oder auch beim kreidebleichen Doktor Rank, der hier einleuchtend zu „Krank“ umgetauft wird, ist zweitrangig. Deutlicher als mit dieser Scheintoten-Optik kann man jedenfalls den Kontrast zur vitalen Nora nicht betonen. Augenfällig wird auch mit denkbar expliziter Bildersprache, was die versammelte Freakshow von Nora will: Sex. Rechtsanwalt Krogstad (ein dämonischer Jürgen Sarkiss), der die Eheleute erpreßt, leckt ihre Beine, lüpft ihr nicht nur den Rock, sondern schlüpft gleich kopfüber darunter. Und selbst Noras hilfsbereite Schulfreundin Christine Linde ist hier nicht besser: Nora Buzalka, von Anfang an Typ „schöne Hexe“, zeigt sehr komisch, was brünftiges Raunzen aus einem harmlosen Satz wie „Ich suche eine neue Stellung“ machen kann; und als die Männer Nora entkleiden und der Länge nach umklammern, greift sie gern mit zu.
Eines aber wird nicht übersteigert, sondern (wie eingangs angedeutet) vielmehr gestrichen: Noras Empathie. Ob gegenüber Gatten, Vater oder Freundin – Fritschs zielsicherer Rotstift eliminiert praktisch jede mitmenschliche Regung und provoziert damit umso stärker die Frage:Wie soll diese Nora, Sirene im doppelten Sinn (so schrill und so verführerisch), bis zum Schluß des Stücks irgend noch zu Größe auflaufen – wie sie es bei Ibsen tut, wo sie von Helmer enttäuscht wird und das Haus als moralische Siegerin verläßt, befreit von sexistischer Bevormundung? Aber was eigentlich wäre sie sonst anderes als eine weitere Kreatur des Gruselkabinetts von Krank und Konsorten – mit dem einzigen Unterschied, daß sie den besseren Friseur hat?
Die Antwort muß wohl lauten: Diese Nora hat zwei Gesichter, und sie weiß selbst nichts davon. Gegen Ende sagt sie einmal: „Danke, Christine. Jetzt weiß ich, was zu tun ist.“ In diesem Moment, wenn nicht alles täuscht, mischt sich ein Ton in ihre Stimme, der bislang ganz fehlte – Ernsthaftigkeit. Es ist fesselnd, Manja Kuhls Spiel zu verfolgen, wie ihre Nora tastend Distanz zu ihrer Püppchen-Rolle austestet, um im nächsten Moment wieder dolly-like „Torvald!!“ zu quieken.
Die Figur Nora ist nicht ideal. Bei Ibsen zeigt sie wenig Geist; bei Fritsch, bei Kuhl hat sie vielleicht sogar keine Gefühle.
Befreien muß sie sich dennoch.
(30.6.2011)
Ist „tot“ ein Kriterium?
Beim Bochumer „Dead or Alive“-Slam
schlagen die Weimarer sich wacker
„Drama rockt, soviel steht fest. Slammer Schiller aus Weimar an der Ilm konnte beim „Dead or Alive“-Slam im Schauspielhaus Bochum mit seinem gereimten Hit vom „Taucher“ den jüngeren Kollegen Andy Strauß zwar nicht toppen und landete mit seinem Team knapp auf Platz 2. Aber erst in der Bonusrunde.“
Keine Sorge: Dieser Einstieg soll nur andeuten, daß „Dead or Alive“-Slams ein Wagnis sind. Größen der Literaturgeschichte werden auf einen Poetry Slam geschickt und der pointengierigen Meute zum Fraß vorgeworfen? So mag mancher schaudernd denken, wenn er von dieser Variante des modernen Dichterwettstreits hört, die nun in Bochum zum ersten Mal in NRW auf einer Theaterbühne veranstaltet wurde – gut gelaunt moderiert vom einstigen Slam-Vizeweltmeister Sebastian23. Konzept: Vertreten durch Schauspieler, treten verstorbene Autoren mit ihren Texten in den direkten Vergleich mit Stars der heutigen Slammer-Szene; und wie dort üblich entscheidet eine Publikumsjury, wer der Beste ist – nicht nur in puncto Textqualität, sondern auch bei der „Performance“. Das muß Bedenken herausfordern.
Umgekehrt gilt das ja immer weniger: Auch im bestens gefüllten Bochumer Schauspielhaus zeigt sich, daß die sogenannten „Rampensäue unter den Gegenwartsschriftstellern“ inzwischen weithin Anerkennung genießen und sich die Frage: „Ist das wirklich Literatur?“ vielen Textfreunden längst nicht mehr stellt. Deutlich übrigens auch: Poetry Slams sind keineswegs (mehr) nur etwas für Studenten. Immer wieder sieht man im Publikum den Zwanzigern deutlich entwachsene Gesichter; und als eine Zuschauerin auf die Frage, warum gerade sie zur Jurorin tauge, antwortet: „Weil ich Kunstgeschichte studiert habe“, geht ein nicht nur freundliches Raunen durch den Saal. Auf beifällige Zustimmung stößt hingegen der Jury-Aspirant, der sich empfiehlt mit der Auskunft: „Ich habe Nasenbluten.“
Eine Erkenntnis des Abends ist: Ob Texte von Toten auf eine Slam-Bühne gehören, ist eine Frage der Auswahl. So manchem poetischen Werk würde man damit Gewalt antun – und dem Publikum womöglich auch. Hier hat sich die Dramaturgie des Hauses in der Tat Gedanken gemacht: Goethe und Schiller sind in Bochum dabei, aber auch Djuna Barnes und die Dadaistin Elsa von Freytag-Loringhoven.Alle qualifizieren sich aus unterschiedlichen Gründen für das Show-Format.
Ensembleschauspielerin Anke Zillich erweckt die amerikanische Romanautorin Barnes als feine, gemeine Lady im schwarzen Kostüm zum Leben. Ihren eleganten Zynismus zur Frage „Was ist Lebensart beim Sterben?“ könnte man sich leicht modernisiert auch gut von spöttischen Autoren unserer Tage vorstellen: „Eine Blondine sollte sich vorzugsweise vor einem Gegenstand der italienischen Frührenaissance erhängen“; ein Gasbrenner hat dagegen „keinen Chic“. Wem es neu war, daß Literaten auch in früheren Zeiten bösartig sein konnten, lernt heute, daß sie auch wild sein können: Johann Wolfgang Goethe kommt, in Gestalt von Ronny Miersch, offenbar nicht ganz nüchtern auf die Bühne und ist ganz Stürmer und Dränger. Zu seinem Gedicht „Willkommen und Abschied“ überrascht er bei fetziger Musik, die Flasche in der Hand, mit einer Disco-Tanzeinlage (die ehernen Slam-Regeln „Keine eingespielte Musik!“ und „Keine Requisiten!“ scheinen für Dichterfürsten nicht zu gelten). Die eher unbekannte Baroneß von Freytag-Loringhoven, in den 1920er Jahren Teil der Pariser Künstlerszene, wiederum wird slam-fähig durch Absurdität: Gespielt von Friederike Becht verkündet sie Sätze wie „Hände weg von der höheren Schönheit der Mortadellawurst!“ und „Du kannst eine ausgewählte Siegelverpackung als Papagei anlernen“ (wenn der Berichterstatter das „richtig“ „verstanden“ hat!).
Aber quod licet Alive, non licet Dead, so scheint es: Die verblichene Baronin kann mit ihren Ausführungen nicht reüssieren und erhält von den sieben ausgewählten Juroren im Publikum insgesamt die wenigsten Punkte (mehrfach nur 5 von 10 möglichen). Andy Strauß hingegen, der den Typ „wahnsinniger Freak“ in der Fraktion der Lebenden abdeckt, wird am höchsten bewertet und sichert dieser am Ende den Triumph. Mit verwegener Mähne erzählt er, er sei „eigentlich nicht so der Mörder“; es folgt eine Groteske über seine Frau, deren Mordattacke aus Neid um seine historischen Nike-Socken er im freien Flug nur unter eigenwilligem Einsatz seines Genitals überlebt. Kopfschütteln. Zehnen.
Vergleichsweise harmlos dagegen die weiteren persönlich anwesenden Poeten – aber nicht weniger vielfältig als ihre Ahnen. Julian Heun aus Berlin gibt nachdenkliche Variationen zu einem Eichendorff-Zitat: „Es schläft kein Lied in allen Dingen / Doch was bleibt, ist die Stille, um es selber zu…“; nicht ohne als Aufhänger aber eine skurrile Edelproleten-Szene zu wählen. Anke Fuchs trägt gewohnt reduziert, aber abgründig Schwierigkeiten bei der Kontaktaufnahme vor: „Ich kann ja schlecht sagen: Darf ich mal deinen Pulli benutzen? Dich vielleicht gleich mit, wenn’s dir nichts ausmacht“ und mischt mit ihrer tiefen Stimme klangstarke Sprachspiele hinein („ich schlage Breschen in gedämpfte Gesprächsfetzen“). Am meisten „Performance“ bietet Moritz Kienemann, der dafür auch bekannt ist: Seine Aussage, ungefähr „Jeder will Liebe, aber möglichst bequem“, spricht der hübsche Bursche so nicht aus, sondern führt sie vor, dreht sich um, brüllt adolf-mäßig.
Am Ende Gleichstand – 102:102. Entscheidend pro „Alive“ dann die Bonusrunde, wo das Gesamtpublikum per Applaus votiert: Strauß besiegt Schiller. Letzterer war mit Schauspieler Roland Riebeling der Erfolgreichste unter den der Gruft Entstiegenen gewesen: mit seiner Ballade „Der Taucher“. Als Einziger des Abends erzählt er eine Geschichte, in strenger Form und tatsächlich mit Pathos, das packt. Fazit also: Ja, auch tote Dichter können slam-geeignet sein und Slams toten-tauglich; aber innerhalb der Kategorie „Dead“ urteilt man offenbar doch konservativ: Wenn schon klassisch, dann richtig.
(30.5.2011)
Traum und wacher Blick
Der (Post-)Surrealist Ludvík Kundera Eine Werkauswahl
Dieser Tage erscheint ein Essayband („Die Begegnung“) des tschechischen Schriftstellers Milan Kundera, der unter anderem seinen Bezug zum Surrealismus zum Thema hat. Eine gute Gelegenheit, auch einmal Bekanntschaft mit seinem Cousin zu machen: dem im vergangenen Jahr verstorbenen Dichter Ludvík Kundera (1920-2010). Und dafür bietet sich der Sammelband „el do Ra Da(da)“ an, eine Werkauswahl in der Reihe „Bibliothek der böhmischen Länder“ beim Arco Verlag (Wuppertal/Wien).
Der ungewöhnliche Titel ist vielsagend: Dadaistischen Prinzipien (wenn es so etwas gibt) folgte Kundera in den vierziger Jahren; aber noch Jahrzehnte später finden sich bei ihm anarchische Sprachspiele dieser Art. Die kleine Silbe „Ra“ dann verweist auf Kundera als Gründer: 1946 war er unter den Initiatoren der „Gruppe Ra“, einer Künstlervereinigung, die sich einem modifizierten Surrealismus verschrieben hatte. Zeigt sich hier eine Gemeinsamkeit Ludvík Kunderas mit seinem berühmten Cousin, so wird diese Nähe im Titel noch konkreter: Denn wer den Begriff „El Dorado“ mit „Traumland“ übersetzt, hat mit dem Phänomen Traum, dem zentralen Begriff der surrealistischen Kunstauffassung, einen Aspekt getroffen, der ebenso bei Milan Kundera von Bedeutung ist – auch in seinem Welterfolg „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“.
Das soll es mit den Verwandtschaftsbeziehungen aber auch gewesen sein; denn der Band „el do Ra Da(da)“, herausgegeben und übersetzt von Eduard Schreiber, spricht für sich und seinen Autor, Ludvík. Ein kurzer Streifzug durch die versammelten Prosastücke, Gedichte, Künstlerportraits von 1938 bis 2005 macht zweierlei schnell klar: Gattungen sind relativ für Ludvík Kundera. Und: „Theorie“ und „Praxis“ sind es auch. Poetische Texte setzen bei ihm Theoretisches nicht nur um, sondern äußern sich zuweilen selbst grundsätzlich. Konkret: Ein dadaistischer „Prolog I“ zum Beispiel jongliert zunächst mit Buchstaben („eR icH“ – „daheR“ – „sicH“ – „Erich“), was in der Ausgabe leider nicht am tschechischen Original nachvollzogen werden kann – an manch anderer Stelle ist die Sprache des Dichters durchaus mit abgedruckt. Wenige Verse weiter klingt es plötzlich programmatisch: „Ersehnte Wohlklänge stellen sich recht heftig ein / wir werden sie zerbrechen / aus ihnen etwas machen auf Irrwege sie führen“. Hans Arp läßt grüßen – und in der Tat hat Kundera den Verfechter von Dada als Zerstörung 1946 in Paris selbst getroffen und erkannte in dieser Begegnung schwärmerisch „die Gesetzmäßigkeit [des] surrealistischen Zufalls“; eine denkwürdige Formulierung.
Der Zufall: Die Dadaisten hatten ihn als schöpferisches Prinzip entdeckt. Der Arco-Band veröffentlicht zum ersten Mal überhaupt einen „Roman“ Kunderas, den der Autor selbst nur in Anführungszeichen so nannte; und dort ist es eine Mixtur aus Lyrik und Tagebuchartigem vor dem historischen Hintergrund des Protektorats, die er wiederum zum Forum für künstlerische Statements macht: „Ich rede mir nicht ein“, heißt es, „nicht die Bohne, durch Konfrontation eines […] zufälligen Textes mit den Frottagen, zu denen [die] Gedichte eingeklebt waren, eine ‚künstlerische Wirkung‘ zu erreichen: Ich rede mir überhaupt nichts ein. Für mich ist das nur ein persönlicher Beleg für die Tragfähigkeit des Zufalls.“
Solch klare Aussagen scheinen eher selten bei Kundera. So wie die Surrealisten das Unterbewußte zum Vorbild für ihre Kunst machten, wirkt vieles auch bei dem in Brünn geborenen Schriftsteller traumähnlich und wie das Ergebnis dunkler Assoziation, was schon den ersten Text der Werkauswahl, die Novelle „Berlin“, zum anspruchsvollen Einstieg macht: „Mein Blick zitterte: ‚Du verschwandest in den Abend, der mir weder hart noch spröde vorkam. Tropfsteinwälder, Kristallabyrinthe, im Haar Schießpulver, Lippensümpfe – nicht einmal die Andeutung einer Fußspur nahm ich wahr.“ Ähnlich komplex bis rätselhaft viele der Gedichte.
Aber Kundera, so wie man ihn in „el do Ra Da(da)“ kennenlernt, wäre wohl nicht Kundera, wenn er nicht auch das Prinzip Traum selbst wieder zum Gegenstand von Reflexion wie auch Spielerei machen würde. In einem abgedruckten Zyklus aus den neunziger Jahren läßt er reale und fiktive Künstler auf einem Heuwagen ein Schloß ansteuern und am Ziel eine Unterhaltung zum Thema „Träume“ führen. Die respektablen Herrschaften schildern ihre Nachterlebnisse, die glatt als surrealistische Lyrik durchgehen könnten; und das damit vorgeführte Schwelgen in Zwischenwelten à la André Breton wird vollends ironisiert, wenn die Gastgeberin „mit einem Hauch Verlegenheit“ resümiert: „Durchaus ein Traum, poetisch durch und durch, nicht wahr, Hochwürden. Vergönnen wir uns einen Augenblick still nachzusinnen.“ Am Schluß verläßt Kundera auch die Ebene dieser absurden Szenerie und verfügt im Stile einer Regieanweisung: „Bitte das Ende dem Zufall überlassen.“
Ludvík Kundera: el do Ra Da(da). - Gedichte. Erzählungen. Essays. Bilder. Aus dem Tschechischen übertragen und mit einem Nachwort von Eduard Schreiber.
Bibliothek der Böhmischen Länder, Bd. 7.
Es wurde auch hohe Zeit. Ein enormer Beamtenapparat, abgeordnet für die penible Erfassung und Auswertung banalster Alltäglichkeiten – und all dies in der Überzeugung, damit welthistorisch Unverzichtbares zu tun: Die Stasi, sie war auch ein sprudelnder Quell der Komik – und hätte (nach dem ernsten Filmdrama des einsamen Mitwissers „Das Leben der Anderen“) längst Stoff für humorige Würdigungen en masse abgeben können. Jetzt ist eine da: Rayk Wieland hat den Roman „Ich schlage vor, dass wir uns küssen“ geschrieben und vorgeführt, was simplen (aber charmanten) lyrischen Gehversuchen passieren kann, wenn sie gewissenhaften Schreibtischrevolutionären in die Hände geraten.
Der eng an den Autor angelehnte W. erfährt 20 Jahre nach der Wende erstaunt, daß er als „unterdrückter Untergrunddichter“ der DDR firmiert; beim Durchstöbern seiner Stasiakte findet er tatsächlich eigene Liebesgedichte an seine damalige Freundin in München, angereichert durch exegetische Bemühungen eines Oberleutnant Schnatz. Dieser legt etwa ein als „Plan und Gegenplan“ betiteltes Gedicht W.s aus als veritable „Verächtlichmachung des sozialistischen Planungswesens“, und Verse wie „Die Straßen führen nirgends hin / Als nur zu dir. So soll es sein.“ genügen ihm für den alarmierenden Vermerk: „Operativ bedeutsam: Straßen, die angeblich nirgendwohin führen, große Welt und Land, das zu klein ist. Anspielung und Zusammenhang auf mehrfach geäußerte Fluchtabsichten des W.“ Besonders der vom Observationsobjekt gern verwendete Konjunktiv ist Schnatz ein Dorn im Auge, denn das bloß Mögliche stehe allen Ernstes „in offenem Widerspruch zur wissenschaftl. Weltordnung“. Durch derlei Kleinkrämerei erscheint der real existierende Sozialismus als kontrollfixierte Lachnummer: „Gut möglich, dass dieser Staat, der einen grotesk überschätzten Liedermacher mit Hängeschnäuzer sogar ausbürgerte, am Ende durch die obsessive Konzentration seiner Spezialkräfte auf harmlose Hobby-Existentialisten wie mich völlig konfus wurde.“
Doch „Ich schlage vor, dass wir uns küssen“ ist nicht nur DDR-Satire, sondern auch Satire auf die (zumindest von W. so empfundene) Dämonisierung der DDR und die Glorifizierung der Wende. Etwas lächerlich dargestellt sind nämlich auch die rührigen Aufarbeiter vom Symposium „Dichter. Dramen. Diktatur“, die den nichtsahnenden W. partout zum einst verfolgten Dissidenten machen wollen, obwohl der von sich sagt: Ich war kein Opfer, und die DDR war für mich vor allem: langweilig. Und als Szene für die Ewigkeit wird geschildert, wie der Ich-Erzähler den Mauerfall erlebte: Während ganz Ostberlin am Abend des 9.11.1989 zum gerüchteweise offenen Grenzwall strömt, beharrt er als letzter Gast in einer schmierigen Bar auf „Cigarre, Getränk und Würde“ und bringt das ungeduldig wartende Personal zum Wahnsinn mit dem knochentrockenen Satz: „Da nehme ich doch noch einen Cuba Libre.“
Das ist witzig, aber auch sehr forciert. Es gibt im Roman so einige Passagen, die man (bei Satiren natürlich legitim) dick aufgetragen nennen kann: Die interpretatorischen Verrenkungen des Stasioffiziers werden mit der Zeit absurder und absurder, er stellt bei höherer Stelle „Dechiffrieranfragen“ für bedeutungslose Wörter im Gedicht und bescheinigt einem übersetzten Shakespeare-Sonett „defätistische Tendenzen“. Und auch bei der (hier nicht verratenen) Schlußpointe oder auch W.s Zeitreise mit der Rückführungstherapeutin Tyna Novelli drängt sich der Eindruck auf, daß die Geschichte mit überreizten Einfällen gezielt auf „DDR-Kultroman“ getrimmt werden soll. Doch dann fällt der Blick auf den Anhang mit den zitierten Gedichten nebst Schnatz‘ Anmerkungen, und man schluckt. Die sauber mit Sternchen markierten Kommentare wirken beängstigend authentisch. Und gleich wie nahe das Ganze an den realen Erlebnissen von Rayk Wieland konkret sein mag – der DDR-unkundige Rezensent ahnt dumpf: Vielleicht war’s drüben wirklich so.
In einem der raren lustigen Momente des Films „Das Leben der Anderen“ sieht man einen der observierenden Stasibeamten, wie er per Wanze das Liebesspiel des überwachten Ehepaares mithört und formvollendet in die Schreibmaschine tippt: „Vermutlich Geschlechtsverkehr.“ Amt trifft Amor – Rayk Wieland zeigt: Die Komik dieser Kombination füllt spielend ganze Romane.
Rayk Wieland: „Ich schlage vor, dass wir uns küssen.“ Roman
Es ist ein großes Privileg des Theaters, daß es anders als der Film gerade an Charme gewinnen kann, wenn es nicht bis ins Detail realistisch ist. Aber etwas plausibel sein darf es ja vielleicht schon.
Daran hapert es beim Stück „Das Interview“ in der Regie von Siegfried Hopp, das auf einem Spielfilm des ermordeten Niederländers Theo van Gogh basiert und nach Krefeld am 13. Januar nun auch in Mönchengladbach Premiere hatte. Hier kann nicht geklärt werden, ob der Text schon im Drehbuch so wenig überzeugt, ob das erst Resultat der Bühnenadaption durch Stephan Lack ist oder auch der verwendeten Strichfassung. Klar ist nur: Diesem Gespräch fehlt etwas.
Es könnte ein spannender Stoff sein: Der Politikjournalist Pierre (Adrian Linke) wird dazu verdonnert, TV-Sternchen und Boulevardliebling Katja Stuurman (Anja Barth) zu interviewen. Doch in deren Wohnung wird der lustlose Reporter selbst zum Objekt ihrer Kamera und offenbart Intimes, während die junge Schauspielerin die Medienwelt und ihre Oberflächlichkeit bloßstellt. Die interessante Idee des Rollentauschs wird allerdings gleich mit den ganz großen Schicksalsschlägen überladen: Katja hegt Todesgedanken und vertraut Pierre schließlich an, sie habe Brustkrebs. Pierre wurde als Kriegsberichterstatter bei einem Granatenangriff mit mehreren Toten verwundet; dadurch konnte er nicht zur Beerdigung seiner bei einem Unfall umgekommenen Tochter kommen, und seine Frau hat sich darauf von ihm getrennt. Schlimmer als dieser Leidens-Overkill ist aber die Tatsache, daß das Verhalten beider Charaktere beim Aufeinandertreffen allenfalls stiefmütterlich motiviert wird.
Das Problem liegt weniger bei den Schauspielern. Anja Barth und Adrian Linke füllen Katjas Wohnzimmer (grün-extravagant wie ihr Kleid – Bühne und Kostüme: Birgit Eder) mit Leben, weichen sich aus, bedrängen einander, kämpfen. Daß Katja mal brutal formuliert („Zum Dessert gibt es noch Fötus im Glas“ in Anspielung auf eines seiner Kriegserlebnisse), mal keck-überdrehtes Mädchen ist (sie in sarkastischer Klatsch-Manier zu ihm: „Hast du dir die Brüste vergrößern lassen??“): Bei Anja Barth (künftig nicht mehr im Ensemble) paßt es zusammen, weil sie die Actrice mit einem durchgängigen Grundton unterlegt – Verbitterung. Adrian Linke gibt den Pierre reduziert und dabei zwar vielleicht etwas zu unbewegt; aber beide spielen so, als wäre es stimmig, was sie sagen.
Den Gefallen tun Stück und Regie ihnen nicht. Der arrogante Pierre soll eigentlich allmählich Schwächen preisgeben, aber für Allmähliches ist ihm keine Zeit vergönnt: „Okay, ich bin ein Versager“, eröffnet er nach gefühlten zehn Minuten und überrascht damit kein bißchen – man hat ja schon nicht verstanden, wieso ihm zu Beginn des Interviews allen Ernstes keine einzige Frage eingefallen ist. Katja ist vorwitzig gemeint und sagt doch nur Banalitäten; dann muß sie plötzlich „Ich hasse dich!“ schreien, als durchlebten die beiden gerade eine ernste Beziehungskrise. Am Ende filmt sie Pierre, wie er gesteht, seine Frau ermordet zu haben. Mit diesem Trumpf in der Hand hat sie zwar das Spiel gewonnen, weil er nun keine Enthüllungsstories über sie mehr wagen kann, ohne daß sie ihn ans Messer liefert. Aber daß sie sich als Mitwisserin gerade eigentlich selbst in Lebensgefahr begeben müßte: Soviel Logik ist dem Zuschauer offenbar nicht zuzumuten.
Kurz vor Schluß hebt Pierre noch einmal an: „Ich möchte, daß du es weißt…“, und eine absurde Hoffnung blinkt auf: Wird er erklären, daß die ganze Geschichte nur erlogen war? Das würde die dringend benötigte Rechtfertigung liefern dafür, daß vieles so unglaubwürdig ist. Keine Chance: „Ich liebe dich“ lautet sein Bekenntnis. Das ist dann zwar tatsächlich gelogen. Viel wahrer wirkt der Rest aber auch nicht.
(7.1.2011)
Nutzlos, aber ertragreich
Zum Kino-Film über den
Wuppertaler „Kirschgarten“
Am 6. Dezember hatte der Film „Über den Zustand des Nutzlosen“, der anhand der aktuellen Wuppertaler Schauspielproduktion „Der Kirschgarten“ die Situation des gefährdeten Theaters der Stadt reflektiert, im Cinemaxx-Kino Premiere. Die Inszenierung von Intendant Christian von Treskow um eine adlige Familie, die am titelgebenden Garten festhält und dadurch untergeht, stellt die Frage nach dem Verhältnis von Ästhetik und Pragmatismus – vor dem Hintergrund der städtischen Sparpläne von besonderer Bedeutung. Die Filmemacher René Jeuckens und Grischa Windus haben eine Dokumentation aus Spielszenen, Probenaufnahmen und Äußerungen der Beteiligten zusammengestellt, die diesen Aspekt ausführt.
Wie die Inszenierung, so spricht auch der ihr gewidmete Film kein Urteil darüber aus, ob der Sinn für das Schöne wichtiger ist als der für das Notwendige. Und das wäre auch schwierig, denn vorschnell die Verträumtheit des Adels für vorbildlich zu erklären, hieße ja auf das Wuppertaler Schauspiel bezogen, man solle die Hände in den Schoß legen. Schauspieler Gregor Henze, auf der Bühne der ewige Student, stellt im Film aber mit Recht fest: „Die Reaktion der Macher hier ist ‘ne kämpferische“ – man erinnert sich an in der Tat sehr rührige Aktionen wie „24 Stunden Theater“ zu Jahresbeginn. Andererseits hätte „Macher“ Lopachin, der neue Besitzer des Kirschgartens, das Schauspielhaus wahrscheinlich längst an einen Disco-Veranstalter verschachert, um die Finanzen der Bühnen aufzubessern. Der Vergleich Tschechow – Wuppertal, er gerät irgendwann in eine Sackgasse.
Der Film ist dennoch sehenswert, auch deshalb, weil er dem Theaterfreund die seltene Gelegenheit bietet, die Arbeit auf der Probebühne in Ansätzen mitzuerleben – wer es noch nicht wußte, ahnt nun, daß der Schauspieler-Beruf neben vielem anderen auch dies ist: anstrengend. Selten hört man auch Darsteller ihre Figur kommentieren; so tut es hier Thomas Braus, der den Diener Firs spielt und als Fleisch gewordener Anachronismus durchs Geschehen schleicht: „Langsamkeit hat manchmal auch einen Wert.“ Bei den Interviews in Elberfelder Straßen begegnen uns die Theaterleute als Menschen – und erst recht im Kinosaal, wenn sie wenige Reihen hinter dem Zuschauer über Momente des Films in Lachen ausbrechen (ohne den Ernst der Lage zu verkennen).
Es ist wohl ein Merkmal unserer Zeit, daß alles, und damit auch die Kultur, auf den Prüfstand kommt. Aber wenn Kulturschaffende nicht ohne Stolz jeden Gebrauchswert ihrer Kunst von sich weisen, so stimmt das ja nicht: Gerade die „Kirschgarten“-Inszenierung zeigt – auch im Film –, daß Theater sich ganz konkret in aktuelle Debatten einschalten kann, indem es Positionen auf die Bühne bringt und diskutiert. Selbst wenn es am Ende keine Lösung verkaufen kann.
(13.12.2010)
Grau und etwas Grusel
„Das kalte Herz“ nach Wilhelm Hauff in der Textfassung von Helmut Werner
Kein vorweihnachtliches Idyll
Ein einfacher Bursche gerät zwischen einen guten und einen bösen Geist, die beide anbieten, seine Wünsche zu erfüllen. Der Bursche macht Fehler, doch am Ende rettet ihn der Glaube, und er bekommt eine schöne Frau. Eine solche Geschichte könnte Stoff für ein leichtes Märchenspiel sein, oder sogar für ein spaßiges Spektakel. Doch es handelt sich um „Das kalte Herz“ nach Wilhelm Hauff und zudem um die aktuelle Inszenierung von Philip Stemann an den Wuppertaler Bühnen, der offensichtlich keinen Wert darauf legt, ein vorweihnachtliches Idyll zu zaubern.
Schon das Kunstmärchen des Romantikers Hauff von 1827 spart nicht mit Abgründen: Der unzufriedene Köhlerjunge Peter Munk wendet sich an das im Wald hausende Glasmännlein, das ihm die Erfüllung dreier Wünsche in Aussicht stellt. Doch sein kurzsichtiges Profitdenken führt dazu, daß er damit nicht glücklich wird, und er läßt sich auf einen Pakt mit dem finsteren Holländer-Michel ein. Der verspricht ihm Reichtum, will dafür aber das Herz des Jungen im Austausch für ein steinernes; denn das empfindsame Organ, „es hindert dich am Leben“. Peter wird erfolgreich, ist aber zu keinerlei Emotion oder Empathie mehr in der Lage, läßt seine alte Mutter verarmen und erschlägt schließlich seine Frau. Sein lebendiges Herz bekommt er erst durch die Hilfe des Glasmännleins wieder zurück.
An der Grenze zum Horror
Die Inszenierung nun, empfohlen ab zehn Jahren, mildert an der Düsternis der Geschichte nichts ab. Wurde bei früheren Familienstücken auch in Wuppertal oft auf überdrehte Aktion und verspielt-bunte Ästhetik gesetzt (und damit viel Vergnügen bereitet), erlaubt sich „Das kalte Herz“ viel Grau und etwas Grusel. Erst spät gibt es ein paar lustige Momente mit dem dicken Ezechiel (Gregor Henze) und dem langen Schlurker (Hendrik Vogt). Als aber etwa das Glasmännlein den Jungen foppt und ihm zwischen den Bäumen immer wieder entwischt, wird daraus nicht etwa eine amüsante Katz-und-Maus-Szene gemacht. Und wenn der Holländer-Michel sich auf den Jungen wirft und ihm das Herz buchstäblich aus dem Leib reißt, ist für einen Augenblick sogar die Grenze zum Horror erreicht.
Böse? - Böse!
Anteil an der unheimlichen Wirkung hat indes auch die Zeichnung der Figuren. Lutz Wessel gibt den Peter als Draufgänger mit Identifikationspotential, dessen Suche nach Besserem man gern mitverfolgt. Ganz eigenwillig dagegen die Gestaltung der beiden übernatürlichen Kontrahenten: Axel Röhrle ist als Glasmännlein absolut kein Kuschelwesen, sondern weckt mit Glatze und hochaufragenden Haarsträhnen fast mephistophelische Assoziationen. Bei Röhrle ist auch er ein Dämon, unnahbar und streng, wenn auch gutwillig. Der böse Michel hingegen hätte bei anderen Familienstücken optisch als passabler Kinderliebling durchgehen können: Zwar spielt Andreas Petri ihn von Anfang an aggressiv und herrisch, aber sein ungeschlachtes Auftreten mit Pelz und Rauschebart läßt ihn nicht wirklich gemein wirken. Juliane Pempelfort schließlich zeigt Peters Gattin Lisbeth beim Schmücken des gemeinsamen Hauses so, daß einem nur ein Wort einfällt: herzig – aber Peter hat ja kein Herz und bestraft ihr Mitleid mit einem Bettler, indem er ihr eine Flasche auf den Kopf schlägt.
Das alles in einem Bühnenbild (Bühne und Kostüme: C. R. Müller), das die gesamte Stimmung prägt: Endlose Baumstämme evozieren Verlorenheit und werden für die Szenen im Wirtshaus schön simpel nur mit Lichterketten behängt. Das zweite Bild, Michels Waldhütte, enthält zwar die gute Idee, daß die geraubten Herzen in Uhrwerken aufbewahrt sind, stört aber durch die Unterbrechung den Gesamteindruck eher.
Riskante Entscheidung
Das Stück ist klar und verständlich ein Plädoyer für Menschlichkeit. Bereits im Vorjahr hatten die Wuppertaler Bühnen beschlossen, das obligatorische Weihnachtsstück aufzuspalten in eine Produktion für kleine Kinder und eine für Ältere – und damit weniger Erfolg gehabt als erwartet. Es bleibt zu wünschen, daß die riskante Entscheidung für dieses nicht sehr fröhliche „Kalte Herz“ vom jungen Publikum (dieser Tage durch Vampire und Magier anderswo ja eigentlich hinreichend gestählt) stärker honoriert wird.
(7.12.2010)
Die Hoffnung stirbt zuerst
Peter Wallgram inszeniert in Wuppertal
Dennis Kellys Konsumwahn-Drama
Der Titel ist Programm: Das Stück „Liebe und Geld“ von Dennis Kelly, 2006 uraufgeführt und nun von Peter Wallgram an den Wuppertaler Bühnen inszeniert, führt die Folgen des kapitalistischen Denkens am Beispiel eines Paares vor, dessen Liebe zu Konsumwahn und Heimtücke degeneriert. Jess, eigentlich ein positiv denkender Mensch, wird erst kaufsüchtig, dann depressiv, und ihr Mann David entscheidet sich schließlich dafür, ihr beim Selbstmord etwas nachzuhelfen, um sich ein schickes Auto leisten zu können. Zwischen Anfang und Ende dieser traurigen Geschichte wird das Umfeld der beiden in seiner Profitgier und Erbarmungslosigkeit präsentiert und mit diesem Einfluß die Erklärung für ihren Abstieg geliefert.
Hier lauert ein Problem für die Verständlichkeit der Handlung; denn in den erklärenden Einzelszenen ist es nicht immer einfach, den Gesamtzusammenhang im Blick zu bewahren. Das zweite Problem ist die Chronologie: Kurzerhand hat Autor Kelly sie auf den Kopf gestellt, sodaß man erst mit dem Tod von Jess konfrontiert wird, dann den Weg dorthin erlebt und am Ende vom Beginn der Liebe erfährt. Doch das Schöne ist: Zumindest die aktuelle Wuppertaler Inszenierung ist auch dann mit Gewinn zu verfolgen, wenn einmal der rote Faden der Rahmenhandlung verloren geht. Die Szenen werden auch dank Regie und Spiel zu kleinen Einheiten mit Eigenwert, die jeweils ebenfalls von „Liebe und Geld“ handeln – und von Macht.
Das trifft natürlich schon auf den Anfang des Abends zu, wenn David (Marco Wohlwend) einer Internetbekanntschaft (Sophie Basse) nach einigem Sträuben gesteht, daß er seiner halb ohnmächtigen Frau noch Wodka eingeflößt hat, um zu verhindern, daß sie sein Vermögen weiter verpraßt. Ohne Übergang lernt der Zuschauer danach (logisch also davor) in einem bizarren Auftritt die Eltern der Toten kennen: An Kuohn und Holger Kraft kommen in mobilen Ohrensesseln auf die Bühne gefahren und beginnen, mit falschen Nasen ausgestattet, aus dieser Bequemlichkeit heraus zu erzählen. Eigentlich, der Eindruck entsteht durch diese visuelle Idee, sind sie Piefkes, aber das hinderte nicht, daß sie zu Grabschändern wurden: Das Nachbargrab neben dem ihrer Tochter ist viel zu prunkvoll; der Vorschlaghammer bereitet dem in ehelicher Gemeinschaftsaktion ein Ende, und auch hier geht es um Macht – die des „kleinen Mannes“ „über den Reichtum“.
Und so geht es weiter. Als David versucht, in der Telekommunikations-Firma einer Exfreundin unterzukommen, zeigt die genüßlich ihre Dominanz: Während er herumstottert, er wolle keinen Gefallen von ihr, obwohl alle wissen, daß er genau das will, läßt die Regie sie mit ihrem Mann (Thomas Braus) schamlose Küsse austauschen; am offensichtlichsten wird die Demütigung, als sie ihm auf der Suche nach einem alten Leberfleck die Hose herunterzieht. Etwas notdürftig wird das Machtmotiv bei der Episode in der Disco: Hier becirct ein schmieriger Typ ein einfach gestricktes Mädchen mit den „vielen Möglichkeiten“, mit denen er sie berühmt machen könne. Diese Szene hätte man auch gut um die Hälfte kürzen können, denn außer einer weiteren Variante von besagtem Motiv gibt sie eigentlich nicht viel her. Sophie Basse als kaugummikauendes Teenie-Girl („Vielleicht werde ich Terrorist, Kommunist oder Stripper“) ist allerdings ein Erlebnis.
Auch wenn diese Nebenstränge also für sich funktionieren, stehen sie für die Fixierung auf Besitz, die allmählich auf Jess‘ und Davids Liebe übergreift, sie zur Kaufsüchtigen und ihn zum Mörder macht. Allerdings: Die Inszenierung geht noch einen Schritt weiter und konzentriert sich auf den tiefen Fall von Jess. In einer Schlüsselszene stößt David aus Wut über ihre Kaufsucht ihre mannsgroßen Teddybären um, die bis dahin, rosig wie ihr eigenes Kleidchen, als Staffage die Bühne bevölkert haben, und reißt sie damit auch aus ihrer rosaroten Mädchenwelt. Und in ihrem Schlußmonolog über ihre frühe Liebe
zu David, noch fern von jedem Materialismus, wird sie - im Kontrast zu all den Spielchen und Gemeinheiten um sie herum - endgültig zur (einzigen) Sympathieträgerin des Abends: Maresa Lühle ist ein verplaudertes Glücksschweinchen, das mit rührender Bestimmtheit den Nachweis erbringt, daß das Leben wegen der „kosmologischen Konstante“ doch einen Sinn hat.
Nach den Variationen über den Kapitalismus im Allgemeinen schließt die Inszenierung so mit einem individuellen Schicksal. Und das wirkt umso stärker, weil am Ende des Stücks wegen der zeitlichen Umkehrung ja schon bekannt ist, wie diese in sich ruhende junge Frau („Ich bin einfach so zuversichtlich“) einmal enden wird. Erst damit gewinnt übrigens Dennis Kellys Erzählen im Krebsgang so recht eine dramatische Relevanz – statt nur Verwirrung zu stiften.
(16.11.2010)
Puzzle über Plagiate
Michael Zellers Roman "Falschspieler"
„Braucht man mittelmäßigen Versen nur einen attraktiven Autor anzudichten, um Auflagenrekorde zu erzielen? Sieht so das moderne Verlagswesen aus?“ So heißt es im Klappentext des Romans „Falschspieler“ von Michael Zeller. Weiter liest man hier, das vorliegende Werk sei an den authentischen Betrugsfall Forestier angelehnt: Im Jahr 1952 war im renommierten Eugen Diederichs Verlag ein Lyrikband unter dem Namen dieses Autors erschienen, vorgestellt als aus dem Elsass stammender Weltkriegsteilnehmer auf deutscher Seite, den es schließlich als Teil der Fremdenlegion nach Indochina verschlagen habe – am Kriegsschauplatz habe er die Verse notdürftig niedergeschrieben. Das Buch wurde ein großer Erfolg und erhielt auch von der Literaturkritik viel Lob. 1955 kam heraus: Forestier gibt es nicht. Ein Skandal. Verfasser der Gedichte war Karl Emerich Krämer, seines Zeichens Herstellungsleiter des Diederichs Verlags, der auf die geschickte Idee verfallen war, sie durch die Vorschaltung einer interessanten Autorenbiografie zugkräftiger zu machen. Der SPIEGEL erklärte damals den Erfolg der Verse mit dem Identifikationspotenzial des angeblichen Autors: „[Die deutsche Nachkriegsjugend] konnte in Forestier ihre eigene Begeisterung und ihre eigene Enttäuschung wiederfinden.“
Dies ist die Geschichte des historischen Falls Forestier. Michael Zellers Roman „Falschspieler“ von 2008 nun ist zwar in der Tat an diesen Fall angelehnt – sein Thema ist trotzdem ein anderes.
Im Februar 2010 gab es einen weiteren Literaturskandal – es ging um den Roman „Axolotl Roadkill“ von Helene Hegemann, der Fremdpassagen eines Bloggers enthielt. Der Fall ist hier nur deshalb erwähnenswert, weil er gerade das Phänomen betrifft, das Zeller zum Hauptaspekt seines „Falschspielers“ gemacht hat: das Plagiat. Zwar gibt es auch in seinem Roman einen angeblichen Autor mit ähnlichen Lebensdaten wie „Forestier“, er nennt sich Demoulin, und seinen Erfinder, der frecherweise Zurmühlen heißt. Aber viel wichtiger ist bei Zeller die Tatsache, daß sein Falschspieler die Lyrik eines ahnungslosen Dritten als Werk jenes Demoulin deklariert. Dieser junge Mann, Elmar Kiesling, ist ein glühender Bewunderer des schriftstellernden Zurmühlen und sendet diesem seine Verse mit der Bitte um eine ehrliche Beurteilung zu – aus Toronto, wohin er sich vor seinen Kriegserinnerungen geflüchtet hat. Der Betrug im „Falschspieler“ besteht also weniger in der Fingierung der Autorenbiografie als vielmehr im schlichten Diebstahl fremden geistigen Eigentums. Und eigentliches Thema des Romans ist daher die traurige Geschichte des Elmar Kiesling, der von seiner Vergangenheit nicht loskommt und dessen Vertrauen dann von Zurmühlen böse mißbraucht wird.
Diese Geschichte ist höchst ungewöhnlich erzählt: Vier Texte von vier verschiedenen Ich-Erzählern werden kommentarlos aneinandergereiht – ein Romanbeginn, ein Stoß Briefe, ein gelehrter Bericht. An vierter Stelle steht die Schilderung des Verlegers Marc Geldner, der auf Tagebuchaufzeichnungen Kieslings stößt; dieser ist inzwischen weitergeflohen – als Einsiedler in die kanadischen Wälder. Ein gefundenes Fressen für den selbst schreibenden Verleger: Kieslings Leben wird kurzerhand als Plot eines Romans ausgeschlachtet, der verbitterte Dichter ein zweites Mal zum Opfer eines Falschspielers.
Michael Zeller geht also mit dem Fall Forestier sehr frei um: Dem erfundenen Dichter gesellt er einen geprellten lebendigen hinzu, aus einem geschäftstüchtigen Verleger werden zwei. Andererseits legt er den fiktiven Figuren wörtliche Realzitate in den Mund, so den bezeugten Ausspruch von Eugen Diederichs über die Relevanz von Forestiers Nicht-Existenz: „Der Ruhm einer solchen Leistung ist nicht an das Zufällige des Persönlichen gebunden.“ Durch all dies gerät allerdings das angekündigte Thema aus dem Blick. „Falschspieler“ ist kein Roman über einen autorenfixierten, oberflächlichen Literaturbetrieb geworden. Dafür gibt es aber eine tragische Künstlergeschichte, wie ein Puzzlespiel konstruiert und in ganz unterschiedlichen, auch witzigen Tonfällen erzählt.
Man ist versucht zu sagen: Zeller bedient sich nach Gutdünken aus einer realen Vorlage, eignet sich an, was ihm paßt. Probehalber sei einmal der Autor mit den diversen Fälschern in eine Reihe gestellt: Krämer, Zurmühlen, Geldner… Zeller? Diese Respektlosigkeit fordert der in Wuppertal lebende Schriftsteller übrigens selbst heraus: Ursprünglich erschien „Falschspieler“ nicht unter seinem Namen, sondern dem einer „Jutta Roth“ – nebst bewegter Biografie; versteckt unter dem aktuellen Einband findet sich bis heute ein weiterer mit dem falschen Autorinnennamen. Daß Zeller in diese zweifelhafte Gesellschaft keinesfalls gehört, erklärt sich mit dem einfachen Grund, daß „Falschspieler“ vom „Original“ der Forestier-Geschichte eklatant abweicht und überhaupt erst ein Kunstwerk daraus macht. Vielleicht ist das aber auch die vernünftigste Haltung in der Hegemann-Debatte: Genau dann, wenn in der Literatur unter Rückgriff auf Fremdes etwas ganz Eigenes entsteht, ist es kein falsches Spiel.
Beim SPEKTAKEL-MAGAZIN für Kultur und Politik erschienen folgende Texte zu lokalen Kulturthemen.
Magnete auf Zeit
Die Kulturreihe „Sommerloch“ bringt Leben in den herunter gekommenen Elberfelder Stadtteil Arrenberg: Ironische Tuffi-Filme und selbstreflexive Ausstellungen ziehen temporär ein studentisches und kunstinteressiertes Publikum in alte Fabrikhallen.
Text: Martin Hagemeyer
Artistische Bretterschlange: Ein verrücktes Kunstwerk empfängt die BesucherInnen der Elba-Hallen
Wuppertal-Elberfeld, Stadtviertel Arrenberg. Wer das alte Fabrikgelände der Firma „Elba“ betritt (den Hausdurchgang dorthin nennt man im Bergischen wohl „Löv“), macht an der Fassade, die den Innenhof begrenzt, ein unklares Etwas aus: Ein amorphes Gewimmel von Farben scheint vom Boden bis zu den halbblinden Fenstern im zweiten Stockwerk zu wachsen. Beim Näherkommen enpuppt es sich als Konglomerat aus bemalten Brettern, Stangen und Holzteilen, das sich die Backsteinmauer hinauf schlängelt und handwerkliches Geschick ebenso vermuten lässt wie ein wenig Verrücktheit. Kein Zweifel: Am Arrenberg hat die Kunst Einzug gehalten.
Seit zwei, drei Jahren locken Kulturprojekte ein junges, studentisches Publikum an den Arrenberg, das hierhin abends zuvor bestenfalls zum Schlafen kam, der niedrigen Mieten wegen. Das Viertel, einst von der Frühindustrialisierung geprägt, ist kein sozialer Brennpunkt – aber schmucklos und ohne jede Attraktion. Die lebendigste Adresse war hier bislang vielleicht das Krankenhaus. Nun wurden hier (unvermutet und ohne erklärte Abstimmung) bunt gemischte Ausstellungen organisiert, ansässige Unternehmen gründeten die Initiative „Aufbruch am Arrenberg“, und der Theaterverein „Shakespeare live“ siedelte sich an: am hässlichen Teil der viel befahrenen Friedrich-Ebert-Straße, den man mit seinen Gebrauchtwagenläden und Bordellen nicht so recht „Lebensader“ der Gegend nennen mag.
Auch die Elba-Hallen bieten seitdem Raum für Kultur, unter Federführung des Investors Bodo Küpper – im schroffen Ambiente verkommener Fabrikräume, in denen bis 1998 in der Tat die bekannten Aktenordner produziert wurden. 2011 nun hat hier das „Sommerloch“ Quartier bezogen. Die Veranstaltungsreihe von Juli bis September belebte die Nachbarschaft im Vorjahr zum ersten Mal (damals in einer leerstehenden Villa auf der Friedrich-Ebert-Straße). Diese Saison wartet sie mit so unterschiedlichen Terminen auf wie Autorenlesungen, einem Auftritt des anarchisch albernen Vollplaybacktheaters (ein Wuppertaler Exportschlager) oder speziellen DJ-Sessions, die sich schon mal empfehlen mit Aussagen wie: „Es ist Zeit, uns vom Fetisch des Wohlstandes als Angelpunkt all unserer Ziele zu verabschieden und nicht länger alle Handlungen als Mittel zu genau diesem Zweck zu begreifen.“
“Wenn Kunst ihre Aufgabe erfüllt hat, muss sie wieder gehen”
Dass Kunst neue Leute anzieht, bestätigt auch Mitorganisator Bram Loss, der in der Haupthalle gerade ein paar Worte mit derzeit ausstellenden Künstlern gewechselt hat. „Und wenn sie diese Aufgabe erfüllt hat, muss sie wieder gehen.“ Er sagt das ohne Bitterkeit. Dass die alten Fabrikgebäude schon im Herbst anderweitig genutzt werden könnten und dann den Kreativen nicht mehr zur Verfügung stünden, ist für die Sommerloch-Macher weniger Anlass zur Klage als dazu, die aktuelle Ausstellung mit dem Titel „So Low Up“ zu organisieren – mit Studenten der Kunsthochschule für Medien Köln, Motto: „Kunst treibt sich selbst.“ Loss ist ein gewandter junger Mann mit trendiger Hornbrille, und ein Wort wie „kuratieren“ zur Beschreibung seiner Tätigkeit geht ihm leicht von den Lippen. Warum er und seine Mitstreiter „Gentrifizierung“ als Leitgedanken der Ausstellung nennen, wird hingegen nicht recht klar. Der Begriff ist ja zu einiger Berühmtheit gelangt in Bezug auf Wandlungsprozesse von Stadtteilen wie in Berlins Prenzlauer Berg, die Kulturtreibende mit angestoßen haben. Aber insbesondere ist es ein Begriff aus der Soziologie und bezeichnet – oft kritisch – den „Austausch“ von Bevölkerungsschichten auf Grund mit dem Hip-Status steigender Mieten. Und davon kann hier im Quartier Arrenberg (noch) ebenso wenig die Rede sein, wie es in den ausgestellten Arbeiten der Künstler zu erkennen ist: von Demografie keine Spur.
Wie Kunst sich Orte anverwandelt – darum vielmehr scheint es etwa bei Pia Schauenburg zu gehen: Unter dem Titel „Conversions“ erweckt ihr Projekt Fundstücke des Hauses aus Fabrikzeiten charmant zu neuem Leben. So zeigt ein Video durch den Raum wandernde Stühle oder Papierschiffchen auf einem Fluss, der doch tatsächlich aus alten blauen Elba-Ordnern besteht. Bei Lina Sieckmann geschieht der Wandel vom (Arbeits-)Schauplatz zum (Kunst-)Schauobjekt über eine einigermaßen abgedrehte Idee: Sie hat, im Sinne einer Performance, bei Elba Staub gesaugt und die benutzten Filter daraufhin in Rahmen präsentiert; der Staub der Halle etwa, in der man sich gerade befindet, ist, ganz klar, das zweite Bild von rechts. Der „Wand-Scan“ von Katharina Klemm schließlich adaptiert die raue Wirklichkeit in der Weise, dass das Werk zur Unkenntlichkeit mit ihr verschmilzt: Die Künstlerin hat einen Abschnitt der Hallenwand eingescannt und, auf Folie reproduziert, exakt wieder in die Mauerstruktur eingefügt. Verdrängung sieht anders aus.
Die Spritzigkeit des Elefanten
Nie geahnte Umwidmungen erfährt das Arrenberger Malocher-Milieu dieser Tage indes zuhauf. In einem anderen Raum gibt es beim „Sommerloch“ Tanztheater zu sehen; die jungen Akteurinnen Alexandrina Hemsley, Amanda Prince-Lubawy und Ina Sladic machen mit ihren ernsten, geschmeidigen Bewegungen die Kalkwände ganz vergessen. Als am Abend die Band Xul Zola sphärische Rhythmen erklingen lässt, wird dieselbe Halle zu einer Mischung aus Konzertsaal und Chill-Lounge. Und mit dem Film „Der Fall des Elefanten“ wird es cineastisch bei „Elba“ – und außerdem humorig: Vor 25 Jahren zwar im Doku-Stil gedreht, wirkt der Streifen des anwesenden Regisseurs Volker Anding über Tuffis Sprung aus der Schwebebahn eher wie eine ironische Präsentation verschrobener Menschen. Sehr ernsthafte Männer erheben mit Berechnungen zu Falltempo und Luftreibung schwere Zweifel an der offiziellen Version des Stadtmythos‘ oder sagen epochale Sätze wie der ältliche Vertriebsleiter der „Tuffi“-Milchwerke über ihr Wappentier: „Die Spritzigkeit des Elefanten beim Sprung in die Wupper symbolisiert das spritzige Produkt“ (er weist dabei auf einen Becher Kefir). Die Zuschauer staunen und sind amüsiert.
Ja, gebildet, jung und lebensfroh sind die Leute, die am Abend auch den „Elba“-Innenhof bevölkern, und versetzen das Randviertel mit einem Hauch von guter Germanistenparty. Aber okkupieren sie es? Auch die bunte Bretter-Schlange an der Fabrikfassade hinter ihnen wirkt ja vital und artistisch – aber eigentlich nicht besonders gefräßig.
Im POETRY SLAM MAGAZIN der deutschsprachigen Slam-Zentrale MYSLAM.DE erschien im Auftrag die Berichterstattung zu SLAM2011, den Deutschsprachigen Meisterschaften im Poetry Slam 2011, in Hamburg (Copyright: 2011 myslam.net).
"Nimm mich mit, Kapitän, auf die Reise...": Die besten Slammer im deutschsprachigen Raum verschlägt es derzeit in den hohen Norden - mit Überraschungen.
Literatur@Reeperbahn
„Ich stelle mir immer vor, Reemtsmas Lager mit Tabak für eine halbe Milliarde geht einmal in Flammen auf. Bei der Rauchwolke würde in Hamburg noch der letzte Nichtraucher zum Nikotinsüchtigen.“
So gehört in diesen Tagen von SLAM2011 in der hanseatischen Hochburg des Dichterwettstreits; und der Poet ist (Trommelwirbel...): Rainer Spickmann. Der Kapitän der Barkasse „Hedi“ schipperte diesen Freitag die nominierten Live-Literaten exklusiv durch den Hamburger Hafen und entpuppte sich als Showtalent – ganz würdig der diesjährigen deutschsprachigen Meisterschaft im Poetry Slam. Ein Vergleich - selektiv, subjektiv und nicht immer ganz ernst gemeint.
LOCATION. Die „Hedi“ ist ein Ausflugsschiff mit 100 Plätzen und war voll belegt.
Da hatte sie zum Beispiel dem Club im III&70 einiges voraus – trotz ähnlicher Größe: Sehr ungleich sind die Kapazitäten verteilt, in denen am Mittwoch und Donnerstag die Vorrunden statt finden; die größte, das „Uebel und Gefährlich“ – passend benannt in einem gewaltigen Bunker –, bekommt dabei ihre über 400 Plätze problemlos gefüllt. Wer weniger Glück hatte und zugleich Texte vortrug, die vor vollem Haus am besten funktionieren, mochte sein frühes Ausscheiden auch damit erklären.
TEXTE (INHALT). Der Kapitän konzentriert sich ökonomischerweise auf Sachinformationen zu Hafen, Waren, Fischen.
Was die Slammer in ihren Texten präsentieren, ist thematisch dann doch deutlich vielfältiger. Sich auf zwischenmenschlicher Ebene nicht entscheiden zu können, nimmt zum Beispiel Daniel Wagner aus Fürth zum Anlass für fantasievolle Variationen von „fälligen Entscheidungen, die in allen Fällen zu fällen sind“ – „Wasserschorle“ aus Sprudel und Still zum Beispiel. Für Kristin Höller im U20-Halbfinale ist es hingegen die Frage nach „Kopf oder Zahl“, die sich ihr spätestens dann nicht mehr stellt, wenn die Fehlermeldung „MATH-ERROR“ zum „lieblichen Boten mathematischer Sterblichkeit“ wird – durch Null teilen führt eben jeden Taschenrechner an seine Grenzen.
TEXTE (FORM). „Solange das Schiff schwankt, schwimmt es noch:“ Humor hat der Mann im blauen Seemannsanzug. In puncto Lyrik allerdings muss man sagen: Spickmann schwächelt. Reime sind bei ihm Mangelware.
Während in den Slam-Vorrunden die lyrischen Beiträge zwar ebenfalls in der Minderheit sind, zuweilen aber umso interessanter. „Mein Herz bringt mich in Verlegenheit / Bei jeder sich ergebenden Gelegenheit“ ist bei theresa hahl nur der Auftakt zu poetischen Miniaturen, die einfallsreich sind und zugleich sorgfältig. Dass es hingegen bei manch anderem Slammer die Tendenz zu zwar gefühligen, aber dabei eher nichtssagenden Metaphern gibt: Pierre Jarawan aus Stuttgart macht sich in seinem Text einigermaßen gemein über (ungenannte) Kollegen lustig – aber doch nicht ganz untreffend.
PERFORMANCE. Der Kapitän zeigt lobenswerten Körpereinsatz: Kaum das sichere Ufer angesteuert, hechtet er vom Steuerrad und vertäut „Hedi“ mit einem umfänglichen Seil.
Nicht jeder Slammer hingegen legt in Hamburg besondere Beweglichkeit an den Tag, und zu manchen Texten (und Typen) passt das ja auch nicht. Fatima Moumouni von U20 etwa erinnert bei ihrer Geschichte von „Sinnbad“ aber noch einmal daran, was an (stimmiger) Aktion von Laufen bis Lauschen alles möglich ist. Und Matti Seydel beschließt seine Kritik am Ruhigstellen von Kindern per Ritalin denkbar plastisch – und kippt einfach um.
REIHENFOLGE. Spickmann: (Einziger Act. Entfällt.)
Slammer: Die eherne Regel, wonach derjenige Poet, dem der erste oder überhaupt ein früher Auftrittstermin des Abends zugeteilt wurde, schlechte Karten hat, bestätigt sich etwa bei Lasse Samström – ihn schlägt das Schicksal schon in der überhaupt ersten Vorrunde, die Marc-Oliver Schuster und Markus Freise im „Molotow“ auf der Reeperbahn moderieren. Dass es auch eine Art (ungeplante) „Dramaturgie“ eines Slammer-Settings geben könnte, liegt zumindest manchmal nahe: Jan-Philipp Zymny, der für Hagen antritt, ist in seiner Gruppe der erste Teilnehmer, der sofort und (heute) ausschließlich „Unsinn“ macht (wie er selbst gern sagt) mit seinem Frühstücksei aus Marmor und dem Badetuch aus Hummelfell – und damit verdient weiter kommt.
Einen Unterschied aber gibt es zwischen Käpt’n und Künstlern (möglicherweise übrigens doch auch noch ein paar weitere…): Der alte Seebär konnte vermutlich immer recht klar voraus sehen, wann seine Route vorbei sein würde. Für acht FinalistInnen, die gerade erst noch zu bestimmen sind, dagegen geht es am Samstag Abend in der 02 World mit unklarem Ende noch einmal weiter. Man darf gespannt sein.
[Große Freiheit Nummer 15: SLAM2011, Hamburg – die Zweite]
Ein paar Schritte hinaus ins Halbdunkel, viertausend Menschen entgegen, und in die viertausendfach gehaltene Stille hinein die ersten Worte eines Textes sprechen, den nur man selbst kennt: Man muss kein Slammer sein, um zu ahnen, dass es ein besonderer Moment war, beim Finale der SLAM2011 die Bühne der o2 World-Arena zu betreten. Acht Poeten waren es im Einzelwettbewerb sowie sechs Teams, die sich in Hamburg in den drei Tagen dieser 15. deutschsprachigen Slam-Meisterschaften zuvor durch Vorrunden und Halbfinals hinweg gegen 103 (Einzel) beziehungsweise 24 weitere Acts (Team) durchgesetzt hatten. „Unerfahrene Literaten mit zitternden Händen auf winzigen Bühnen sind genauso wichtig für Poetry Slam“: Ob dieser spätere Hinweis der Hamburger Slam-Veranstalterin Tina Übel im Interview in den Dimensionen der Halle unmittelbar neben dem Fußballstadion so recht Gehör fand, mag man bezweifeln. Klar bestätigen konnte das Finale aber eine andere Aussage der „Ziehmutter“ von Final-Moderator Michel Abdollahi zum Kunst-Werk Poetry Slam: „Jeder erfindet es neu.“
Dass man sich als Slammer nach wie vor viele Freiheiten heraus nehmen kann, bewies denn auch schon Till Reiners, der erste Teilnehmer. Der Sieger der Landesmeisterschaft Berlin hatte erst Stunden zuvor seine mitgereiste Freundin per Handy informieren können, dass das Los des gefürchteten Starterplatzes soeben ihn ereilt hatte. In diesen Tagen häufiger Kritik an den sozialen Netzwerken drehte er den Spieß gleich einmal um und erklärte die Bedenkenträger zu „Zukunftsverweigerern“: „Was habt ihr eigentlich gemacht, als der Vorgänger von Facebook erfunden wurde?“ Damit meinte er: „das Telefonbuch.“
Vielfalt zeigte sich dann prompt auch bei sonstigen Texten zu Zukunft und Vergangenheit. Laurin Buser, fürs Finale qualifiziert als Titelverteidiger in der Kategorie U20, forderte im folgenden Beitrag energisch: „Vergiss die Wut nicht“, begann in Reimen, um dann aber die Feststellung „Da reimt sich alles außer ,früher‘ und ,heute‘“ zum Kehrvers zu machen. Frühere Schuld, so die Assoziationskette des bemützten Burschen, wird immer weiter gegeben: Ob zwischen Palästinensern und Israelis oder vom Schiedsrichter zum „Blickwinkel“ („Immer ich“, beschwert sich der Blickwinkel).
Mochten die ersten Auftritte des Abends und auch spätere so manches Mal gekonnt die Lachmuskeln strapazieren, so sorgte theresa hahl mit ihrer Variante, ihr eigenes Ding zu machen, eher für Gänsehaut: Mit Strickschal und sparsamen Gesten trug sie „Drei Lebensweisheiten in vier Strophen“ vor, besser gesagt: nahm sie zum Anlass, zum eigenen Philosophieren im Alltag aufzufordern. Denn: „Das Rezept für Zufriedenheit steht uns noch von letzter Nacht auf der Hand.“ Mit 43,4 Punkten, die die Zuschauerjury diesem lyrischen Beitrag insgesamt gab, stellte die für Mainz Angetretene sich vorüber gehend an die Spitze der Wertung.
Seit 2000 schließen die Slammeisterschaften den gesamten deutschsprachigen Raum ein, und so begann Renato Kaiser aus St. Gallen den vierten Act unüberhörbar „schwyzernd“. Seine Version der Geschichte vom kunstsinnigen Pygmalion, der von Apoll bei der Balz überlistet wird, endete als ironischer Appell an die (in mehreren Exemplaren ja doch anwesende) Dichterzunft: „Wer, statt mit dem richtigen Weibe, sich mit Reimen beschäftigt, der fühlt sich am Ende zu Recht von den Göttern verlassen.“ Sollte das ein Wink mit dem Zaunpfahl gewesen sein?
Beide letztgenannten Beiträge dürften Marc Kelly Smith gefallen haben, falls er sie sprachlich verfolgen konnte: Der Urvater des Poetry Slams aus den USA gab sich in der Hamburger Arena zum Ende des Einzel-Teils persönlich die Ehre und rief ganz ähnlich zu Lebendigkeit auf – allerdings noch um einiges einnehmender: „Kiss it, kick it, scream it – but do it NOW.“ Der Pionier, der 1986 in Chicago diese moderne Performance-Literatur begründete, hatte schon bei der Eröffnungsveranstaltung im Thalia Theater beeindruckt.
Zunächst ging es in der o2 World aber mit dem „National“-Slam (sprich neudeutsch: „näschonell“) weiter; und Titelverteidiger Patrick Salmen widmete sich modischen Belanglosigkeiten mit hörbarer Verachtung in der Stimme – hörbar, aber (es war schließlich Salmen): stimmlich wohlklingend. Vom Promidinner über Spiegelreflexkameras spottend bis hin zu pseudo-originellen Urlaubsfotos schloss er konsequent: „Ich stand auf und tötete alle.“ Wie eingangs angedeutet: Slammer dürfen eben alles – zumindest in Worten.
Dass sie auch auf Publikumsbeteiligung setzten dürfen, daran erinnerte als Nächster Sebastian 23. 2008 Vizeweltmeister im Poetry Slam und weiterhin ein großer Name in der Szene, gab er quer durch seinen Vortrag immer wieder per Hand das Signal ans Publikum, das Wort „FÜNF“ zu skandieren. Das bezog auch Lokalspezifisches ein: Die Millionen „für die Elbphilharmonie?“ bezifferten die Zuschauer aufs Zeichen hin lautstark mit (stark untertreibenden) Fünf ebenso wie am Ende die Frage: „Wie viele Punkte bekomme ich?“ – um dann aber, vertreten durch die acht ausgewählten Juroren, doch eine 44,4 zu geben. Inhaltlich ging es übrigens um Angepasstheit und den Tipp dagegen: „Redet Unfug!“
Passende Überleitung: Zu reinen Unsinnstexten traute sich aber keiner der Finalisten – im Gegensatz zu den Vorrunden. Auch Nektarios Vlachopoulos vom Slam Pforzheim verriet zwar laut Eigenbetitelung „das bekloppte Geheimnis um Jonathan“ und erzählte auch einigermaßen Sinnleeres aus der „Twilight“-Welt. Wer den Dreh zur Idee seines Textes fand, konnte das Ganze aber eher als Karikatur auf Trivialbestseller-Sprech verstehen: „Ich erfuhr ein Geheimnis, das ich bis dahin nicht kannte“ glänzte ebenso von Redundanz wie „Je mehr ich über ihn erfuhr, desto mehr brachte ich ans Tageslicht.“ Durchaus tricky – mancher Slam-Kollege mochte nach dem Finale in nächtlicher Runde dennoch zweifeln, ob ein Text zu einem Vampir-Reißer der Meisterschaft würdig war, auch wenn man sie dem Kollegen herzlich gönnte. Denn, lassen wir die Fledermaus, pardon: Katze aus dem Sack: Der Beitrag ebnete Nektarios den Weg nach ganz oben.
Die letzte Poetin im Einzelwettbewerb war Svenja Gräfen, die für den „Koblenzer Reimstein“ antrat. Sie wählte als Metapher für ihr Thema, nämlich eine aus dem Takt geratende Orientierung im Leben, den Film im Speziellen und Allgemeinen: „Ich zappe wie durch einen Schwarz-Weiß-Film und bin frustriert: Ich versteh‘ die Handlung nicht.“ Am Ende ihres Vortrags stand die Ermunterung, sich dem Leben zu stellen: „Es ist kein Filmfehler, sondern die Realität. Willkommen zurück.“
Soweit dies sich gegen ein Übermaß an bloß virtueller „Tätigkeit“ in Facebook-Tagen verstehen ließ, präsentierte sich der Slam im Vergleich mit der Zuckerberg-Schützenhilfe beim ersten Kandidaten also auch, was Urteile zu Zeitthemen betrifft, von seiner vielfältigen Seite. Im Hostel-Foyer der Slammer auf der Reeperbahn sollte dann entsprechend durchaus Uneinigkeit zu hören sein, ob Facebook uncool ist oder ob es vielmehr uncool ist, Facebook uncool zu finden.
Für die Chronik: Im Stechen trafen Patrick Salmen und Nektarios Vlachopoulos aufeinander. Der Wuppertaler Titelverteidiger, der zuweilen mit seinem Bart gleichgesetzt wird, schickte seinen Text übers Scrabble-Spielen ins Rennen, in dem „Ulf vom Campingplatz in Italien“ als Bestandteil einer „buchstäblichen“ Killer-Kombi ungewollt einiges zum Sieg beiträgt. Sieger des Abends und damit: des Finales und damit: deutschsprachiger Slam-Meister 2011 wurde aber Nektarios Vlachopoulos: Der Grieche („kein Künstlername!“) mit dem Holzfällerhemd überzeugte mit einer Romanzen-Farce, die weniger umstritten war als sein erster Beitrag: Der von ihm Dargestellte hatte sich verliebt – in sich selbst. Ehe er sich heiratete, so erklärte sein Alter Ego mit der größten Selbstverständlichkeit (wie heißt „Alter Ego“ eigentlich im Plural?), musste er hart um sich kämpfen – schließlich war ein Mädchen wie er nicht so leicht zu haben. (Und das in Hamburg.)
Nach der Pause folgte der Team-Wettbewerb. Um sich hier auf einiges Wesentliche zu beschränken: Es siegte das Team "Totale Zerstörung", bestehend aus Julius Fischer und André Hermann. Im Stechen schlugen sie das Quartett „Allen Earnstyzz“ mit Stefan Dörsing, Temye Tesfu, Julian Heun und Scott-Horst Kinski. Etwas ganz Zentrales jedes Poetry Slams kam hier wie auch bei anderen Acts dieser zweiten Programmhälfte doch noch eindrucksvoll zur Entfaltung: die Performance. Recht viele der Einzel-Slammer hatten zwar ihren Vortrag mittels Tempo und Stimme akustisch lebendig gestaltet, doch an optischen Effekten wenig geboten (was ja auch kein Nachteil sein muss). Nun aber: „Allen Earnstyzz“ sprühten vor Energie, sprangen über die Bühne und warfen sich im Sprung gegenseitig die verbalen Bälle zu, die von Märchen handelten und vom Verhältnis zur Wirklichkeit. Und die siegreichen Herren Fischer und Hermann legten mitreißend körperbetonte Hip-Hop-Variationen zur derzeit gern und selbstgerecht verwendeten Phrase „Es muss doch erlaubt sein…“ aufs Parkett.
Bald vier Stunden Live-Literatur: Zu schultern hatte den reibungslosen Show-Ablauf Finalmoderator Michel Abdollahi, der mit seiner souveränen, aber kühlen bis herrischen Art einen Aspekt des Slam-Finales 2011 deutlich vertrat: Professionalität.
Es ließe sich ja manches sagen über eine Kunstform, die in Chicago mit wenigen No-name-Schreibern begann und inzwischen die großen Hallen füllt. Das kann nicht ohne Folgen bleiben: Wer zwanzig Euro aufwärts für eine Karte bezahlt, der will keinen „Charme des Unfertigen“, der will Qualität. Und frech sei’s prophezeit: Wahrscheinlich dauert es auch nicht mehr lange, bis die vielgelobten „zitternden Hände“ bei Poetry Slams anerkannter Grund für Reklamation und Eintrittspreisminderung sind - leider. Aber richtig bleibt, und auch das bestätigte sich beim SLAM2011: Es gibt in der aktuellen Populärkultur wohl kaum ein anderes Format dieser Größenordnung, das vielen Bühnenkünstlern derartige Freiheiten lässt; und damit auch keines, das ebenso dem Publikum die Vielfalt eines Poetry Slams bietet. Beides betrifft Themen, Gattungen und Präsentationsformen ebenso wie Typ und Persönlichkeit der einzelnen Auftretenden. Einschränken können die Slammer diese Freiheit nur selbst: indem sie zu sehr auf den Beifall schielen.
Am Abend der ersten Vorrunden ergab sich vor der kleinen Hamburger Location „Molotow“ ein kurzer Dialog zwischen dem Berichterstatter und einem Passanten. Passant: „Was spielt denn heute für eine Band?“ – „Heute ist Poetry Slam.“ – „Ah ja. …Und was spielen die so?“ Was sie wollen, hätte man antworten mögen. Hoffentlich bleibt es so.
„Regen“ und „pleite“ sind Selbstläufer. Bei einem Kabarettprogramm wie TALFAHRT, dem satirischen Jahresrückblick für Wuppertal, gibt es natürlich ein paar stadttypische Themen, über die das Publikum vor Ort verlässlich und besonders gerne lacht. Aber die Herren Jürgen H. Scheugenpflug, Jens Neutag und am Piano Ulrich Rasch können mehr: Die drei bergischen Lokalmatadoren machen auf ihrem humorigen Weg durch 2011 zwar wenig konkret, aber viel Spaß – und nebenbei etwas Werbung für den Bürgerbahnhof Vohwinkel, indem sie ihre Premiere in die junge Location im einst tristen Wuppertaler Westen verlegten.
Dass auch der ganze Stadtteil einen zuweilen eher zweifelhaften Ruf genießt (schon vor Ausbreitung der dortigen Neonazi-Szene), hat sich offenbar über die Tal-Grenzen hinaus herum gesprochen: „Anfang des Jahres wurde in Vohwinkel ein Pizza-Bote überfallen“, weiß der gebürtige Remscheider Jens Neutag im schlichten Saal des Bürgerbahnhofs knochentrocken schon unter den ersten Meldungen des Jahres mitzuteilen – „der Räuber wird bald gemerkt haben: In Vohwinkel war das Wertvollste da wahrscheinlich die Pizza.“
Kleine Respektlosigkeiten gegen einzelne Stadtteile Wuppertals wie auch manche Eigenart seiner Bürger leisten Neutag und Scheugenpflug sich häufiger. Wiederholte Kommentare und Running Gags sorgen für besonderes Vergnügen; und diese wiederum komisch zu kombinieren: Da beweisen die beiden Kabarettisten wirklich Talent. In zwar blödsinnigen, aber ziemlich witzigen Liaisons finden Meldungen des Jahres zueinander, neben der heute Abend arg verhohnepipelten Barmer Citymanagerin („Zitter-Managerin“) etwa der Polizeischutz für Neonazis zur Demo im Januar und das heimliche Top-Thema „Vordereinstieg in Wuppertaler Linienbussen“: „Die Nazis wurden von der Polizei zu ihrem eigenen Schutz in WSW-Bussen abgeholt. Wen sie transportieren, ist den Stadtwerken eigentlich ziemlich egal – Hauptsache, sie steigen vorne ein.“
Am besten gelaunt zeigt sich an diesem Abend der Mann am Klavier: Ulrich Rasch, der umtriebige Wuppertaler Jazzpianist mit den vielen Brillen, intoniert mit sichtlich wachsendem Vergnügen mal Schlager, mal Sirtaki und macht „groovy Scheuges“ Gesangseinlagen gleich noch mal so schön. Der hat’s stimmlich allerdings ohnehin drauf und röhrt echt westernhagend: „Se-Xy …ist das Stadion, wenn der WSV spielfrei hat.“ Verblüffend einleuchtend erklärt Knautschgesicht Scheugenpflug daneben in Wuppertal, dem „Griechenland NRWs“, die europäische Schuldenkrise: Der Athener Hotelier bringt das Geld des Touristen zu seinem Gläubiger, dem Bauern, der bringt es zu seiner Prostituierten, die zum Hotelier – und da sagt der Tourist: „Das Zimmer gefällt mir nicht“ und nimmt sein Geld wieder mit. Jungenhaft und smart dagegen das aufstrebende Kabarett-Gewächs Neutag; und als Leitkultur-Erklärer à la „Sendung mit der Maus“ hat er (geklaut, aber vom eigenen Soloprogramm) eine seiner Glanznummern: „Bei den Katholiken haben Frauen nur ganz wenig zu sagen, daher tragen dafür die Messdiener – gennauuu – Frauenkleider. Klingt komisch. Is‘ aber so.“
Nicht alles kommt natürlich gleich gut an beim Publikum im Vohwinkler Bürgerbahnhof; denn bei aller Freude an Späßen zur Stadtkasse: Mit den „Pleite-Griechen“ gleichsetzen lassen will man sich dann ja wohl doch nicht. Aber dass die Zuschauer zu Beginn dem freundlichen Gastgeber vom Bürgerverein stärker Beifall klatschen als den drei dann Auftretenden und auch beim Schlussapplaus etwas unentschlossen sind – die TALFAHRer sollte es nicht wundern: Sie kennen ja ihre Wuppertaler.
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Ein paar Schritte hinaus ins Halbdunkel, viertausend Menschen entgegen, und in die viertausendfach gehaltene Stille hinein die ersten Worte eines Textes sprechen, den nur man selbst kennt: Man muss kein Slammer sein, um zu ahnen, dass es ein besonderer Moment war, beim Finale der SLAM2011 die Bühne der o2 World-Arena zu betreten. Acht Poeten waren es im Einzelwettbewerb sowie sechs Teams, die sich in Hamburg in den drei Tagen dieser 15. deutschsprachigen Slam-Meisterschaften zuvor durch Vorrunden und Halbfinals hinweg gegen 103 (Einzel) beziehungsweise 24 weitere Acts (Team) durchgesetzt hatten. „Unerfahrene Literaten mit zitternden Händen auf winzigen Bühnen sind genauso wichtig für Poetry Slam“: Ob dieser spätere Hinweis der Hamburger Slam-Veranstalterin Tina Übel im Interview in den Dimensionen der Halle unmittelbar neben dem Fußballstadion so recht Gehör fand, mag man bezweifeln. Klar bestätigen konnte das Finale aber eine andere Aussage der „Ziehmutter“ von Final-Moderator Michel Abdollahi zum Kunst-Werk Poetry Slam: „Jeder erfindet es neu.“
Dass man sich als Slammer nach wie vor viele Freiheiten heraus nehmen kann, bewies denn auch schon Till Reiners, der erste Teilnehmer. Der Sieger der Landesmeisterschaft Berlin hatte erst Stunden zuvor seine mitgereiste Freundin per Handy informieren können, dass das Los des gefürchteten Starterplatzes soeben ihn ereilt hatte. In diesen Tagen häufiger Kritik an den sozialen Netzwerken drehte er den Spieß gleich einmal um und erklärte die Bedenkenträger zu „Zukunftsverweigerern“: „Was habt ihr eigentlich gemacht, als der Vorgänger von Facebook erfunden wurde?“ Damit meinte er: „das Telefonbuch.“
Vielfalt zeigte sich dann prompt auch bei sonstigen Texten zu Zukunft und Vergangenheit. Laurin Buser, fürs Finale qualifiziert als Titelverteidiger in der Kategorie U20, forderte im folgenden Beitrag energisch: „Vergiss die Wut nicht“, begann in Reimen, um dann aber die Feststellung „Da reimt sich alles außer ,früher‘ und ,heute‘“ zum Kehrvers zu machen. Frühere Schuld, so die Assoziationskette des bemützten Burschen, wird immer weiter gegeben: Ob zwischen Palästinensern und Israelis oder vom Schiedsrichter zum „Blickwinkel“ („Immer ich“, beschwert sich der Blickwinkel).
Mochten die ersten Auftritte des Abends und auch spätere so manches Mal gekonnt die Lachmuskeln strapazieren, so sorgte theresa hahl mit ihrer Variante, ihr eigenes Ding zu machen, eher für Gänsehaut: Mit Strickschal und sparsamen Gesten trug sie „Drei Lebensweisheiten in vier Strophen“ vor, besser gesagt: nahm sie zum Anlass, zum eigenen Philosophieren im Alltag aufzufordern. Denn: „Das Rezept für Zufriedenheit steht uns noch von letzter Nacht auf der Hand.“ Mit 43,4 Punkten, die die Zuschauerjury diesem lyrischen Beitrag insgesamt gab, stellte die für Mainz Angetretene sich vorüber gehend an die Spitze der Wertung.
Seit 2000 schließen die Slammeisterschaften den gesamten deutschsprachigen Raum ein, und so begann Renato Kaiser aus St. Gallen den vierten Act unüberhörbar „schwyzernd“. Seine Version der Geschichte vom kunstsinnigen Pygmalion, der von Apoll bei der Balz überlistet wird, endete als ironischer Appell an die (in mehreren Exemplaren ja doch anwesende) Dichterzunft: „Wer, statt mit dem richtigen Weibe, sich mit Reimen beschäftigt, der fühlt sich am Ende zu Recht von den Göttern verlassen.“ Sollte das ein Wink mit dem Zaunpfahl gewesen sein?
Beide letztgenannten Beiträge dürften Marc Kelly Smith gefallen haben, falls er sie sprachlich verfolgen konnte: Der Urvater des Poetry Slams aus den USA gab sich in der Hamburger Arena zum Ende des Einzel-Teils persönlich die Ehre und rief ganz ähnlich zu Lebendigkeit auf – allerdings noch um einiges einnehmender: „Kiss it, kick it, scream it – but do it NOW.“ Der Pionier, der 1986 in Chicago diese moderne Performance-Literatur begründete, hatte schon bei der Eröffnungsveranstaltung im Thalia Theater beeindruckt.
Zunächst ging es in der o2 World aber mit dem „National“-Slam (sprich neudeutsch: „näschonell“) weiter; und Titelverteidiger Patrick Salmen widmete sich modischen Belanglosigkeiten mit hörbarer Verachtung in der Stimme – hörbar, aber (es war schließlich Salmen): stimmlich wohlklingend. Vom Promidinner über Spiegelreflexkameras spottend bis hin zu pseudo-originellen Urlaubsfotos schloss er konsequent: „Ich stand auf und tötete alle.“ Wie eingangs angedeutet: Slammer dürfen eben alles – zumindest in Worten.
Dass sie auch auf Publikumsbeteiligung setzten dürfen, daran erinnerte als Nächster Sebastian 23. 2008 Vizeweltmeister im Poetry Slam und weiterhin ein großer Name in der Szene, gab er quer durch seinen Vortrag immer wieder per Hand das Signal ans Publikum, das Wort „FÜNF“ zu skandieren. Das bezog auch Lokalspezifisches ein: Die Millionen „für die Elbphilharmonie?“ bezifferten die Zuschauer aufs Zeichen hin lautstark mit (stark untertreibenden) Fünf ebenso wie am Ende die Frage: „Wie viele Punkte bekomme ich?“ – um dann aber, vertreten durch die acht ausgewählten Juroren, doch eine 44,4 zu geben. Inhaltlich ging es übrigens um Angepasstheit und den Tipp dagegen: „Redet Unfug!“
Passende Überleitung: Zu reinen Unsinnstexten traute sich aber keiner der Finalisten – im Gegensatz zu den Vorrunden. Auch Nektarios Vlachopoulos vom Slam Pforzheim verriet zwar laut Eigenbetitelung „das bekloppte Geheimnis um Jonathan“ und erzählte auch einigermaßen Sinnleeres aus der „Twilight“-Welt. Wer den Dreh zur Idee seines Textes fand, konnte das Ganze aber eher als Karikatur auf Trivialbestseller-Sprech verstehen: „Ich erfuhr ein Geheimnis, das ich bis dahin nicht kannte“ glänzte ebenso von Redundanz wie „Je mehr ich über ihn erfuhr, desto mehr brachte ich ans Tageslicht.“ Durchaus tricky – mancher Slam-Kollege mochte nach dem Finale in nächtlicher Runde dennoch zweifeln, ob ein Text zu einem Vampir-Reißer der Meisterschaft würdig war, auch wenn man sie dem Kollegen herzlich gönnte. Denn, lassen wir die Fledermaus, pardon: Katze aus dem Sack: Der Beitrag ebnete Nektarios den Weg nach ganz oben.
Die letzte Poetin im Einzelwettbewerb war Svenja Gräfen, die für den „Koblenzer Reimstein“ antrat. Sie wählte als Metapher für ihr Thema, nämlich eine aus dem Takt geratende Orientierung im Leben, den Film im Speziellen und Allgemeinen: „Ich zappe wie durch einen Schwarz-Weiß-Film und bin frustriert: Ich versteh‘ die Handlung nicht.“ Am Ende ihres Vortrags stand die Ermunterung, sich dem Leben zu stellen: „Es ist kein Filmfehler, sondern die Realität. Willkommen zurück.“
Soweit dies sich gegen ein Übermaß an bloß virtueller „Tätigkeit“ in Facebook-Tagen verstehen ließ, präsentierte sich der Slam im Vergleich mit der Zuckerberg-Schützenhilfe beim ersten Kandidaten also auch, was Urteile zu Zeitthemen betrifft, von seiner vielfältigen Seite. Im Hostel-Foyer der Slammer auf der Reeperbahn sollte dann entsprechend durchaus Uneinigkeit zu hören sein, ob Facebook uncool ist oder ob es vielmehr uncool ist, Facebook uncool zu finden.
Für die Chronik: Im Stechen trafen Patrick Salmen und Nektarios Vlachopoulos aufeinander. Der Wuppertaler Titelverteidiger, der zuweilen mit seinem Bart gleichgesetzt wird, schickte seinen Text übers Scrabble-Spielen ins Rennen, in dem „Ulf vom Campingplatz in Italien“ als Bestandteil einer „buchstäblichen“ Killer-Kombi ungewollt einiges zum Sieg beiträgt. Sieger des Abends und damit: des Finales und damit: deutschsprachiger Slam-Meister 2011 wurde aber Nektarios Vlachopoulos: Der Grieche („kein Künstlername!“) mit dem Holzfällerhemd überzeugte mit einer Romanzen-Farce, die weniger umstritten war als sein erster Beitrag: Der von ihm Dargestellte hatte sich verliebt – in sich selbst. Ehe er sich heiratete, so erklärte sein Alter Ego mit der größten Selbstverständlichkeit (wie heißt „Alter Ego“ eigentlich im Plural?), musste er hart um sich kämpfen – schließlich war ein Mädchen wie er nicht so leicht zu haben. (Und das in Hamburg.)
Nach der Pause folgte der Team-Wettbewerb. Um sich hier auf einiges Wesentliche zu beschränken: Es siegte das Team "Totale Zerstörung", bestehend aus Julius Fischer und André Hermann. Im Stechen schlugen sie das Quartett „Allen Earnstyzz“ mit Stefan Dörsing, Temye Tesfu, Julian Heun und Scott-Horst Kinski. Etwas ganz Zentrales jedes Poetry Slams kam hier wie auch bei anderen Acts dieser zweiten Programmhälfte doch noch eindrucksvoll zur Entfaltung: die Performance. Recht viele der Einzel-Slammer hatten zwar ihren Vortrag mittels Tempo und Stimme akustisch lebendig gestaltet, doch an optischen Effekten wenig geboten (was ja auch kein Nachteil sein muss). Nun aber: „Allen Earnstyzz“ sprühten vor Energie, sprangen über die Bühne und warfen sich im Sprung gegenseitig die verbalen Bälle zu, die von Märchen handelten und vom Verhältnis zur Wirklichkeit. Und die siegreichen Herren Fischer und Hermann legten mitreißend körperbetonte Hip-Hop-Variationen zur derzeit gern und selbstgerecht verwendeten Phrase „Es muss doch erlaubt sein…“ aufs Parkett.
Bald vier Stunden Live-Literatur: Zu schultern hatte den reibungslosen Show-Ablauf Finalmoderator Michel Abdollahi, der mit seiner souveränen, aber kühlen bis herrischen Art einen Aspekt des Slam-Finales 2011 deutlich vertrat: Professionalität.
Es ließe sich ja manches sagen über eine Kunstform, die in Chicago mit wenigen No-name-Schreibern begann und inzwischen die großen Hallen füllt. Das kann nicht ohne Folgen bleiben: Wer zwanzig Euro aufwärts für eine Karte bezahlt, der will keinen „Charme des Unfertigen“, der will Qualität. Und frech sei’s prophezeit: Wahrscheinlich dauert es auch nicht mehr lange, bis die vielgelobten „zitternden Hände“ bei Poetry Slams anerkannter Grund für Reklamation und Eintrittspreisminderung sind - leider. Aber richtig bleibt, und auch das bestätigte sich beim SLAM2011: Es gibt in der aktuellen Populärkultur wohl kaum ein anderes Format dieser Größenordnung, das vielen Bühnenkünstlern derartige Freiheiten lässt; und damit auch keines, das ebenso dem Publikum die Vielfalt eines Poetry Slams bietet. Beides betrifft Themen, Gattungen und Präsentationsformen ebenso wie Typ und Persönlichkeit der einzelnen Auftretenden. Einschränken können die Slammer diese Freiheit nur selbst: indem sie zu sehr auf den Beifall schielen.
Am Abend der ersten Vorrunden ergab sich vor der kleinen Hamburger Location „Molotow“ ein kurzer Dialog zwischen dem Berichterstatter und einem Passanten. Passant: „Was spielt denn heute für eine Band?“ – „Heute ist Poetry Slam.“ – „Ah ja. …Und was spielen die so?“ Was sie wollen, hätte man antworten mögen. Hoffentlich bleibt es so.
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